Zeit-haben

„Ich habe keine Zeit – ich bin total beschäftigt“

„Ich ersticke in Arbeit und finde kaum noch Zeit für meine Freunde oder gar für mich selber“

Diese oder ähnliche Aussagen bekomme ich in letzter Zeit immer öfter zu hören und zwar sowohl im privaten Bereich wie auch in meiner Coaching­tätigkeit. Warum das ernsthaft gefährlich für ein glückliches Leben ist erfahren Sie hier.

Kann man Zeit nutzen – kann man Zeit verschwenden?

Der Umgang mit Zeit war schon immer eines der Themen, das mich besonders interessiert hat. Diese faszinierende Dimension, die so schwer zu begreifen ist und unabhängig von unserem eigenen Zutun existiert.

Aus meiner Sicht ist Zeit ist nichts, was man hat oder nicht hat. Denn Zeit kann man nicht besitzen. Zeit ist das, was man sich nimmt – für eine Tätigkeit, für andere Menschen, für sich selber.

Die gefühlte Freiheit, seine Zeit selber einzuteilen, ist jedoch eine relativ geringe, da wir uns doch meist den Bedingungen und den Normen so stark ausgeliefert sehen. Wir leben in einer Arbeitswelt, die so vieles gleichzeitig anschwemmt: Informationen, Aktivitäten, Pflichten und vieles mehr, so dass praktisch jeder zu viel hat. Zu viel Arbeit, zu viele Termine, zu viele Projekte und zu viele kleine Baustellen, einfach zu viel zu Tun.

Wir sind so beschäftigt, dass es immer schnell und schneller gehen muss. Mal eben noch die Mails checken – kurz noch den Kollegen informieren – rasch den Bericht schreiben… und stets begleitet von dem Gefühl, dass etwas liegengeblieben ist, dass man etwas vergessen hat.

So besteht unser Alltag meist aus einer Abfolge von raschen Tätigkeiten. Alles muss schnell erledigt werden, kaum noch etwas wird in Ruhe gemacht – zum Nachdenken fehlt die Zeit. Ist das noch überlegtes oder gewünschtes Handeln?

Wenn ich permanent beschäftigt bin mit Mails, mit Besprechungen und Meetings, mit dem Abarbeiten der zu erledigenden Dinge, verliere ich da nicht schnell mal den Überblick?

Vollgas oder Tiefschlaf

Mit der zunehmenden Beschleunigung bleibt immer eine Ungewissheit, ob nicht gerade im Moment etwas besonders Wichtiges „reingekommen“ ist, was man noch mal eben schnell kontrollieren und bearbeiten müsste. Das Fatale dabei ist, dass es so kein Ende gibt und man niemals fertig ist.

Genau dieses „mal eben schnell“ erledigen, dieses dauerhaft im Laufschritt zu leben, das ist der Einstieg in das berühmte Hamsterrad. Immer schneller, bis man erschöpft und müde ist. Arbeit wird zu Überarbeitung.

Der Ausgleich zum täglichen Tun und Stress ist dann erschöpftes Schlafen. Entweder Vollgas oder Tiefschlaf – das ist weder angenehm noch gesund. Genau genommen ist es für den menschlichen Organismus sogar extrem schädlich und steigert das Herzinfarkt-Risiko.

Das Leben ist keine Beschäftigungstherapie

Überarbeitet und gestresst zu sein ist das eine, das andere ist die Qualität dessen, was wir tun und damit auch die Lebensqualität, wie wir etwas tun.

Es spricht überhaupt nichts dagegen, beschäftigt zu sein und zu arbeiten, aber dazu gehört eben auch ein Teil Zeit zum Denken, für die Reflektion des eigenen Handelns. Nur so kann Kreativität und Innovation entstehen. Nur so kann man aus Fehlern lernen und Neues finden. Nur so entsteht Weiterentwicklung.

Für mich stellt sich deshalb die Frage: Was ist eigentlich unser Verständnis von Beschäftigung und zwar sowohl in der Arbeitszeit als auch in der Freizeit?

Es ist ein großer Irrtum, dass gute Leistung durch hohes Tempo oder durch eine maximale Arbeitsstundenzahl erzielt wird.

Leider ist dieser Irrglaube bei uns immer noch weit verbreitet und oft wird die Anwesenheit am Arbeitsplatz höher geschätzt als das Arbeitsergebnis. Quantität wird mit Qualität verwechselt

Dauernd beschäftigt zu sein, im Stress zu sein, ist heutzutage praktisch zu einem Statussymbol geworden. (mehr dazu in dem Artikel Stress & Burnout als Dauerbrenner)

Aber Leben ist eben keine Beschäftigungstherapie, sondern die Auseinandersetzung mit und die Gestaltung von dem, was wir vorfinden, was uns interessiert, was uns wichtig ist.

Wenn jedoch vor lauter Beschäftigt-sein Wichtiges auf der Strecke bleibt, die Familie, die Freunde, die eigene Person, dann bedeutet das, dass wir unsere Bewertungsmaßstäbe verschoben haben.

Das läuft so ganz en passant ab. Unbemerkt verlagern wir die eigenen Prioritäten. Was uns wirklich wichtig ist, steht plötzlich nicht mehr vorne, sondern hinten an. So verschieben wir unbemerkt aber de facto unsere eigenen Werte.

Das ist wie ein Paradox: Je mehr wir gegen unsere eigenen Werte leben, indem wir anderes als wichtiger einstufen und ihm Vorrang einräumen, umso mehr sehnen wir uns nach dem Eigenen, dem Kern dessen, was wir in unserem Leben als wichtig betrachten, nämlich dem Sinn.

Aus meiner Sicht ist die Suche nach dem persönlichen Sinnempfinden das Wesentliche im Leben. Daran sollte sich das, was man tut und das, was man bleiben lässt, ausrichten und die eigenen Prioritäten orientieren.

Arbeiten und Beschäftigt-Sein sind ganz wesentliche Bestandteile von Lebensqualität. Eine Aufgabe zu erledigen erfüllt meist mit Freude und Stolz auf das Ergebnis, das eigene Tun und die eigene Wirksamkeit. Das Erleben von persönlichem Erfolg erzeugt Zufriedenheit, und Selbstwertgefühl.

Zielführend und zufriedenstellend ist dabei die Ausrichtung an den eigenen Werten und dem persönlichen Sinn. Dafür müssen wir uns ab und an die Zeit nehmen und bewerten, ob wir Spaß haben und ob wir auf der richtigen Spur sind – dann darf es ja auch ruhig die Überholspur sein!

Rennen und Abarbeiten jedoch kann diese Gefühle von Selbstwert und Zufriedenheit niemals erzeugen.

Es geht also nicht um den Ausgleich, den man sich in der freien Zeit von der Arbeit verschafft, sondern um die Gestaltung der Zeit grundsätzlich.

Wenn man daran glaubt, dass Zeit genutzt werden muss und verschwendet werden kann, dann wird Lebenszeit in Effizienz gemessen. Und diese Rechnung geht nicht auf.

Der „Carpe-diem- Error“

Carpe diem
Stammt aus einem Gedicht von Horaz und bezieht sich darauf, die eigene Lebenszeit zu genießen, statt jenseitsorientiert zu leben.
Dabei ist Bildung, Weiterentwicklung und Eigenverantwortung als Weg zu persönlicher Freiheit gemeint.
Das Carpe-diem – Motto, das überall verkündet wird, verführt dazu, jeden Augenblick ausnutzen zu müssen. Habe ich heute schon richtig gelebt (so als ob es mein letzter Tag wäre)? Habe ich heute schon ausreichend Genuss und Lifestyle gehabt? Habe ich meinen heutigen Lebenstag gut genutzt?

Mit dieser Einstellung wird dann auch die Freizeit zum stressigen Event, selbst das Erholen ist verplant. Carpe –diem hat sich zu einer Art Genussmaximierung im Sinne eines kurzfristigen Hedonismus entwickelt.

Das setzt viele oft schlichtweg zusätzlich unter Druck und verschafft zwar ausgefüllte Zeit und einen vollen Terminkalender, aber zuweilen nicht wirklichen Genuss.

Wirklicher Genuss entsteht, wenn wir uns einer Aufgabe widmen, in der wir aufgehen, unsere Energie und volle Aufmerksamkeit hineinlegen können. Etwas, wo wir Raum und Zeit vergessen, was man dann Flow nennt.

Zeitwohlstand ist das neue Zauberwort.

Und dies mein persönliches Plädoyer für die Muße!