Werdeganggestaltung
Werdeganggestaltung, was für ein sperriger Begriff! Ich weiß gar nicht mehr, wie oft ich schon gefragt wurde, ob mir denn nichts Besseres einfallen würde. Es gäbe doch so hübsche Begriffe, schön kurz und knackig, die man sich leicht merken kann und die viel werbewirksamer sind. Aber ausgerechnet Werdeganggestaltung? Ja, sie haben alle Recht! Aber darum ging es mir doch auch gar nicht. Mir geht es darum, ob es Sinn macht.
Was heißt Werdeganggestaltung?
Es heißt nichts anderes, als das, was wir werden und wohin wir uns bewegen (gehen), zu gestalten. Und das tun wir eigentlich laufend: Wir durchlaufen erst eine schulische Bildung, die sogenannte „Schullaufbahn“, anschließend durchlaufen wir eine berufliche oder universitäre Ausbildung. Dann starten wir durch in den Beruf. Wir durchlaufen verschiedene Stationen und Positionen, unterschiedliche Jobs und Organisationen immer im Wettlauf um interessantere Aufgaben. Und das nennen wir dann Karriere.
Karriere, dieses Wort kommt aus dem Französischen und bedeutet Laufbahn, ursprünglich gemeint ist damit die Pferderennbahn. Also der Ort, wo Pferde im Kreis um die Wette laufen – und so läuft man und läuft man … Exit Rente – Notausstieg: Burnout
Über das Lernen von Spielregeln
Und so laufen wir oft in hohem Tempo durch unser Leben. Bereits als Kind haben wir gelernt, dass bestimmte Spielregeln dazugehören.
Spielregel 1
Ein guter Schulabschluss ist die Eintrittskarte für den Beruf. Wer studieren will muss ein Abi machen.
Spielregel 2
Es ist nicht wichtig, wofür man sich interessiert, gelernt wird, was der Lehrplan und die Prüfungsordnung vorgeben.
Spielregel 3
Der persönliche Biorhythmus ist dem Zeitplan des Schulalltags unterzuordnen.
Spielregel 4
Reden ist nur gestattet, wenn man sich gemeldet hat und aufgerufen wird.
Spielregel 5
Eigene Interessen zu verfolgen ist nur dann möglich, wenn das Lern- und Hausaufgabenpensum erledigt ist.
Spielregel 6
Wenn man nicht mitspielt, fliegt man raus.
Das wird uns als die wichtige Vorbereitung auf den Ernst des Lebens verkauft. Aber was passiert mit uns? Wir lernen, unsere persönlichen Bedürfnisse zurückzustellen und als nicht so wichtig zu betrachten. Das kann dazu führen, dass uns das Bewusstsein über unseren eigenen Gestaltungsspielraum peu à peu Verschütt geht.
Werdeganggestaltung ist etwas, das wir laufend tun.
Und in dieser Doppeldeutigkeit ist es auch gemeint: Wo wir einerseits so sehr im Laufen, Durchlaufen und Funktionieren sind, sind wir gleichzeitig mit allem, was wir an Entwicklungen vollziehen, an Bildung aufnehmen, an Erfahrungen durchleben mit unserem Handeln und unseren Entscheidungen die Gestalter unseres eigenen Werdegangs!
Werdeganggestaltung kann man nicht „Nicht-tun“.
Sie kennen das aus der Kommunikation, es ist nicht möglich, nicht zu kommunizieren. Selbstverständlich ist es möglich, nichts zu sagen, zu schweigen und dennoch kommunizieren Sie.
Genauso ist es mit dem eigenen Werdegang. Egal, was Sie tun: Sie sind und bleiben Gestalter Ihres Werdegangs! Sie können den Dingen ihren Lauf lassen oder eigene Ziele setzen. Sie können in vorgegebenen Strukturen mitgehen oder eigene Wünsche und Träume in die Tat umsetzen – Sie selbst treffen immer die Entscheidung mit den Konsequenzen.
Die ausschlaggebende Frage ist, inwieweit Sie das aktiv tun oder passiv geschehen lassen. Es geht also um die Bewusstheit darüber, im eigenen Leben der Gestalter und Schöpfer, der Tuende und Täter zu sein. Wenn man sich darüber klar ist, dass man mit allem Verhalten und Handeln immerzu selber gestalten, dann eröffnet das noch etwas anderes. Nämlich dass Sie Wahlmöglichkeiten und Gestaltungsspielräume haben. Sie können jederzeit anfangen, etwas zu verändern. Sie können die Verantwortung übernehmen.
Warum fällt uns das so schwer?
Weil das Bewusstsein darüber, im eigenen Leben selbst der Gestalter zu sein oftmals nicht mehr präsent ist. Wir haben es regelrecht verlernt. Unser Ausbildungsweg, beginnend mit der Schule, dann Lehre, berufliche Ausbildung oder Universität hat uns geprägt. In dem langen Zeitraum unserer Sozialisierung und Erziehung wurde uns immer wieder klar gemacht, dass bestimmte Regeln und Normen notwendig sind.
Das Ziel ist ein Beruf, eine Arbeit, die es uns ermöglicht, unabhängig und selbständig ein Leben zu führen. Um dieses Ziel zu erreichen, machen wir die Erfahrung, dass der eigene Gestaltungsspielraum sehr gering ist. Wir lernen in dieser Zeit, dass wir bestimmte „Spielregeln“ und Grenzen einhalten müssen. Nur in der wenigen Freizeit können wir auch „frei“ sein. Nur da dürfen wir unsere Vorlieben, Interessen und Wünsche ausleben.
Diese Erfahrung gräbt sich tief in uns ein, denn wir werden darauf konditioniert. Das bedeutet: Wenn wir gut mitspielen, werden wir mit „guten Noten“ belohnt, zu Hause gelobt und häufig beschenkt. Wenn wir die Grenzen übertreten, mit „Verweisen“ und „Nachsitzen“ bestraft, es erzeugt Enttäuschung, Ermahnung oder Ärger. Gleichzeitig lernen wir am Vorbild: unsere Freunde, Geschwister, Eltern, alle haben das erlebt und halten es für normal. Somit kann sich leicht die Annahme verselbständigen, dass der persönliche Gestaltungsspielraum generell gering ist. Schleichend wird das zur Selbstverständlichkeit. Vergleichbar mit einem Automatismus. Wir sind so sehr daran gewöhnt, kaum Einfluss nehmen zu können, dass wir dies gar nicht mehr hinterfragen. Tatsächlich aber ist es erlerntes Verhalten und Denken, das wir wie einen Reflex haben, um uns an unsere Lebensumwelt anzupassen.
Warum Spielregeln trotzdem Sinn machen
Das frühzeitige Kennenlernen von Spielregeln ist durchaus zweckmäßig, schließlich wollen die meisten ja innerhalb der Gemeinschaft leben. Und da macht es durchaus Sinn, die Regeln und Normen, Gesetzte und auch Ethik zu kennen. Diese zu verstehen und zu akzeptieren. Ich spreche mich nicht gegen Spielregeln aus. Denn Arbeit und Beruf finden ebenso in einem sozialen Umfeld, in einem strukturellen und kulturellen Rahmen statt, wie auch Freizeit, Sport, Hobbys. Um mit anderen Menschen Kontakt zu haben und erfolgreich zu kommunizieren, braucht es eine gemeinsame Basis, ein Verständnis darüber, was „normal“ ist. Je besser man sich mit dem, was normal, also Norm ist, vertraut gemacht hat, umso leichter kann man sich in dieser Umwelt auch bewegen. Das Vertraut-sein mit den Spielregeln ist also hilfreich. Aber nur solange wir nicht unseren eigenen Gestaltungsspielraum, unsere Freiheiten aus den Augen und dem Bewusstsein verlieren.
Werdeganggestaltung statt Karriereleiter
In diesem gerade beschriebenen Automatismus gehen Viele ihre Karriere an: Sie wollen Aufsteigen. Das häufigste Bild für Karriere sind Treppenstufen oder eine Leiter, die es zu erklimmen gilt, als handele es sich um eine sportliche Aktivität. Mit dieser Vorstellung entwickelt man dann das erforderliche Durchhaltevermögen, akzeptiert Regeln, Werte und Ziele, die nicht die eigenen sind, ja diesen zum Teil diametral entgegenstehen. Um diesen inneren Widerspruch, diese kognitive Dissonanz auszuhalten, greift man dann oftmals zu einer Notlösung, nämlich der strikten Trennung von Beruf und Privatem. Diese Trennung ist jedoch künstlich und dem menschlichen Organismus gänzlich fremd. Sie können zwar Ihre Unterlagen im Büro zurücklassen, das Adrenalin in Ihrem Blutkreislauf jedoch werden Sie nicht im Büro einsperren können, sondern mit in Ihre freie Zeit, mit nach Hause nehmen.
Der Grundgedanke dabei ist genau das, was man schon aus Kindertagen kennt: „frei bin ich nur in meiner Freizeit“.
Schade. Denn welchen Wert und welche Bedeutung bekommt Beruf und Arbeit dadurch?
Grundsätzlich ist Arbeit ja nicht losgelöst im Raum oder Selbstzweck. Ihre Funktion geht auch weit über das „Geld-zum-Leben-Verdienen“ hinaus. Wir definieren uns ja meist über sie. Fragt man Menschen, was Sie geworden sind, so nennen sie fast immer ihren Beruf. Obwohl sie genauso Mutter bzw. Vater geworden sind. Arbeit ist also in hohem Maße identitätsstiftend. Und mehr noch, sie ist ein Grundbedürfnis eines jeden Menschen: Der Wunsch zu gestalten und etwas zu bewegen, etwas zu bewirken, ist uns angeboren.
So setze ich gegen die die Karriereleiter und Laufbahnplanung die Werdeganggestaltung.
Werdegang bedeutet „Werden“ beim „Gehen“, also stetige Weiterentwicklung. Herauszufinden, was Sie wirklich antreibt und begeistert, wofür Sie brennen, was Ihre eigenen Interessen sind. Genau dort liegen auch Ihre persönlichen Stärken.
Sowohl Kompetenzen, wie auch Expertise und ganz grundsätzlich die Persönlichkeit werden ja nun nicht verliehen wie ein Orden. Sie entwickeln sich mit der Zeit und können immer weiter verfeinert werden. Die Zutaten sind die Erfahrungen, die Sie machen, die Kontakte, die Sie haben und das Wissen, das Sie sich aneignen.
Die eigene Entwicklung findet immer gleichzeitig in verschiedenen Bereichen statt, die sich wechselseitig beeinflussen und in einer Eigendynamik weiterentwickeln. So entwickeln wir Fähigkeiten im Beruflichen, genauso aber auch in unseren Partnerschaften, unserer Familie, in dem, was wir in unserer Freizeit tun, dem ehrenamtlichen Engagement, in all unseren Tätigkeiten und Leidenschaften. Unser Werdegang ist also die Gesamtheit unserer Entwicklung in allen Bereichen, der alle Aspekte unseres Lebens miteinbezieht.
Karriere, die Spaß macht
Das alles funktioniert nur, wenn Sie sich Ihres eigenen Gestaltungsspielraumes bewusst sind und ihn auch nutzen. Eigenaktivität und Achtsamkeit für Sie selbst sind wichtige Voraussetzungen. Beginnen Sie einfach. Statt zu warten und zögerlich in der persönlichen Komfortzone zu verharren – probieren Sie es aus! Das Wunderbare dabei ist, dass Sie genau das tun, was Sie gerne tun. Das, was Sie wirklich interessiert, was Ihnen Spaß macht. Betrachten Sie es als ein Experiment: Rückschläge, Fehler, Niederlagen und Irrwege gehören dazu. Sie sind Teil der Entwicklung und bringen Sie weiter voran.
Um das wirklich umsetzen zu können, selber zu gestalten, werden grundlegende Fragen relevant: Was ist mir persönlich wirklich wichtig? Worin sehe ich Sinn in meinem Leben? Wie will ich mein eigenes Leben gestalten?
Bei der Beantwortung dieser Fragen gilt es: Nicht hereinzufallen auf die „JA-Aber-Falle“. Denn es geht gar nicht um ein „Entweder-oder“ sondern es geht um das „Sowohl-als-auch“. Es geht darum, Balancen zu finden zwischen verschiedene Polen, wie zum Beispiel persönliche Identität und berufliche Rolle, Arbeit und Muße oder Engagement und Distanzierungsfähigkeit. Das bedarf immer wieder einer situationsbedingten Überprüfung, wie die Regler auf einem Mischpult immer wieder neu aufeinander abgestimmt werden müssen.
Leben ist ein Gesamtkunstwerk
Das Maß für das, was Sie geworden sind, ist nicht ein Diplom, keine noch so hohe Position, kein gewonnener Preis, kein Reichtum, dies alles sind lediglich Konsequenzen oder Nebenwirkungen. Das wahre Maß ist das eigene Sinn- und Glücksempfinden. Die Eingebundenheit in eine Gemeinschaft, die nicht endende persönliche Entwicklung. Der von Ihnen gestaltete Werdegang ist Ihr Leben!
Und so gesehen ist „Werdeganggestaltung“ ein schönes Wort, oder was meinen Sie?